Der Erfinder

 

Auf unserem Hof gab es eine Wildente – Dußja. Sie führte jeden Tag ihre eigenen 9 Entlein und auch die 7 der Wildente Mußja zum nahegelegenen Weiher und am Abend wieder zum Hof zurück. Dort wurden alle zusammen in einen hochwandigen Korb gesetzt und über Nacht in die Küche neben den warmen Herd gestellt.

 

Am nächsten Morgen als wir noch schliefen, kletterte Dußja aus dem Korb, begann herumzulaufen und rief schnatternd ihre Entlein. Die Kleinen antworteten mit einem 16stimmigen Pfeifkonzert. Doch aus diesem Durcheinander hörten wir die Stimme eines einzelnen Entleins deutlich heraus. „Hört ihr?“, fragte ich meine Kinder. Zu unserem Erstaunen war Dußja nicht allein auf dem Boden. Neben ihr lief, sehr unruhig und unaufhörlich piepsend, eines der Entlein hin und her. Es war – wie die anderen nicht größer als eine kleine Gurke. Wie hatte es dieser Krümel fertiggebracht, über die etwa 30 cm hohe Korbwand zu klettern? Ich wickelte dem kleinen Entlein ein Band um das Füßchen.

 

In der Frühe des nächsten Tages, als sich das morgendliche Entengeschrei im Hause vernehmen ließ, stürzten wir in die Küche. Neben Dußja lief das Entlein mit dem gekennzeichneten Füßchen hin und her. Die übrigen, die im Korb gefangen saßen, piepsten, strebten hinaus, konnten aber nichts ausrichten. Ich sagte: Es hat sich etwas Besonderes ausgedacht.“ „Es ist ein Erfinder!“, rief Nina.

 

Ich stand am nächsten Morgen vor dem Hellwerden auf. Alles schlief und ich setzte mich in der Küche auf die Lauer. Das Fensterviereck wurde hell. Es begann zu dämmern. „Krjak-krjak!“ sagte Dußja. „Swiß-swiß!“ antwortete ein einzelnes Entlein. Da schaltete ich das Licht ein. Die Ente hatte sich noch nicht erhoben. Ihr Kopf reichte gerade bis zum Rande des Korbes. Sämtliche Entlein schliefen unter ihr im Warmen, bis auf das eine mit dem Band am Füßchen. Es war hervorgekrabbelt und nun an der Mutter von Feder zu Feder wie auf einer Stufenleiter hinaufgeklettert, bis es auf ihren Rücken gelangte. Als Dußja aufstand, hob sie es mit sich empor. Sobald das kluge Entlein sich auf gleicher Höhe mit dem Korbrand befand, lief es wie eine Maus über den Rücken der  Mutter und stürzte sich kopfüber nach unten. Nach ihm ließ sich die Entenmutter schwerfällig vom Korbrand auf den Boden fallen. Und nun begann das übliche morgendliche Durcheinander, ein Geschrei und Gepiepse, das durch das ganze Haus schallte.

 

Zwei Tage später waren plötzlich drei Entlein unten, dann fünf, und schließlich lernten es alle. Das erste Entlein aber, das für die anderen den Weg gebahnt hatte, nannten wir auch weiterhin den Erfinder.

                                                                                                              Michail Prischwin

(gekürzte Fassung)

 

                                                                                                      Lesen Darstellen Begreifen  C5

 

Montag, 11. Dezember