Vogel      

 

Ich liege im Bett, es ist früh, ich lausche einem Vogel, der singt. Ich nehme an, dass mein Freund neben mir noch schläft, aber plötzlich murmelt er leise: „Er singt falsch.“

 

„Wie bitte?“, frage ich. „Er singt falsch“, sagt er. Er hätte singen müssen as -f- c, triolisch, aber er singt irgendetwas Undefinierbares, und sein f ist verstimmt, das ist irgendetwas zwischen e und f.“

 

Mein Freund ist Musiker, aber das ist mir zu viel. „Bist du verrückt“, sage ich. „Das ist ein Vogel, der da sein Morgenlied singt. Das ist ein Vogel. Das ist Natur!“

 

„Seine Töne“, sagt er, „kommen in der Naturtonreihe aber nicht vor.“ Ich sage: „Der Vogel ist doch Natur. Er singt. Er kann das von Gott. Er hat nicht in Donaueschingen oder an der Musikhochschule in Hamburg gelernt.“

 

„Nein“, sagt mein Freund, „aber trotzdem hat er das Stück, das er da singt, aus Wagners Walkürenritt geklaut, und er singt es falsch.“

 

„Kann das nicht sein“, frage ich, „ dass Wagner es bei einem Vogel geklaut hat? Wagner hat ja auch ein Waldvögelein singen lassen, du weißt schon, Siegfried. Das Vöglein sagt ihm doch, wo es langgeht.“

                                                                   

„Ja“, sagt mein Freund, „das Vöglein wollte klüger sein als der Mensch. Und dein Vogel hier im Garten will klüger sein als alle Musikwissenschaftler. Er denkt, das geht so. Aber er singt falsch. Er trifft nie den mittleren Ton.“

 

Und dann dreht er sich weg und schläft noch mal ein. Und ich liege da, höre dem Vogel zu und denke: Hände weg von den Musikern.    

 

Elke Heidenreich     Alles kein Zufall

Montag 16. Dezember